Ausgabe 9/2020, Mai
Thematischer Schwerpunkt: Grundrechtsschutz in der Mehrebenenordnung
Abhandlungen
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Eckart Klein, Potsdam, Kompetenzielle Würdigung und verfassungsprozessuale Konsequenzen der „Recht auf Vergessen“-Entscheidungen
Die beiden Beschlüsse vom 6. November 2019 zum „Recht auf Vergessen“ werfen ein helles (grelles) Licht auf die Rolle, die der Erste Senat dem Bundesverfassungsgericht im Bereich des europäischen Grundrechtsschutzes zuweist, die aber unter dem Aspekt der Kompetenz kritisch zu betrachten ist. Zahlreiche erfreuliche Feststellungen, darunter die betonte Bereitschaft zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, bleiben ambivalent. Mögliche prozessuale Folgerungen der zu Verfassungsbeschwerden ergangenen Beschlüsse sind zu diskutieren, darunter die Übertragbarkeit der dort gewonnenen Erkenntnisse auf Normenkontrollverfahren. Auch Konsequenzen, die sich aus dem Ansatz des Ersten Senats ergeben könnten und über die Grundrechtsprüfung bei der Rechtsanwendung hinausreichen, werden erörtert.
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Andrea Edenharter, Hagen, Die EU-Grundrechte-Charta als PrĂĽfungsmaĂźstab des Bundesverfassungsgerichts
Die Beschlüsse Recht auf Vergessen I und Recht auf Vergessen II des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. November 2019 markieren einen Paradigmenwechsel in der Judikatur des Gerichts. Nach den beiden Beschlüssen ist nunmehr im vollharmonisierten Bereich allein die EU-Grundrechte-Charta als unmittelbarer Prüfungsmaßstab heranzuziehen. Im nichtharmonisierten Bereich soll eine unmittelbare Anwendung der Grundrechte-Charta durch das Bundesverfassungsgericht unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls möglich sein. Der Beitrag untersucht, inwiefern die Argumentation des Ersten Senats sich als tragfähig erweist und welche Konsequenzen für das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht, nationalen Fachgerichten und EuGH von den Beschlüssen zu erwarten sind. Außerdem ist nach den Auswirkungen auf die Auslegung sowie auf die Bedeutung der nationalen Grundrechte zu fragen.
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Toni Fickentscher, Regensburg, Die „Afghanistan-Papiere“: Ein Lagebericht zum Schutz des „geistigen Eigentums“ als Eigentum im europäischen Mehrebenensystem
Der andauernde Streit um den Urheberschutz militärischer Lageberichte (sog. „Afghanistan-Papiere“) beschäftigte auch den EuGH. Der Beitrag zeigt anhand dieses Falles grundlegend auf, inwiefern das „geistige Eigentum“ – selbst ohne konkrete rechtliche Anerkennung – durch Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 17 Abs. 2 GRCh geschützt ist, indem der Einfluss der völkerrechtlichen Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP-EMRK) im europäischen Mehrebenensystem dargelegt wird.
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Sarah Geiger, Hamburg, Verfassungsgerichtliche Grundrechteprüfung im Anwendungsbereich des Unionsrechts – Deutschland und Frankreich im Vergleich – Zugleich eine Anmerkung zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. November 2019 (Recht auf Vergessen II)
In seiner vieldiskutierten Entscheidung Recht auf Vergessen II wendet das Bundesverfassungsgericht neben einer Vielzahl an juristischen Argumenten auch das aus der Rhetorik bekannte Autoritätsargument an: Um seine Kompetenzausweitung auf eine verfassungsgerichtliche Prüfung anhand der Grundrechtecharta zu kontextualisieren, verweist es auf europäische Verfassungsgerichtsnachbarn. Dem Verweis nach kontrollieren diese bereits einfaches Recht am Maßstab der Unionsgrundrechte. Kurios ist dabei die Nennung des französischen Conseil constitutionnel: Dieser ist für eine verfassungsgerichtliche Prüfung am Maßstab des Unionsrechts nicht kompetent. Die divergierenden Prüfmaßstäbe der beiden Verfassungsgerichte im unionsrechtsdeterminierten Bereich werden nachgezeichnet und eine mögliche Annäherung aufgezeigt.
Buchbesprechungen
- Joachim Lege (Hrsg.), Gelingendes Recht – Über die ästhetische Dimension des Rechts (Michael Kilian)
- Martin Junkernheinrich/Stefan Korioth/Thomas Lenk/Henrik Scheller/Matthias Woisin (Hrsg.), Jahrbuch für öffentliche Finanzen 2019 (Anna Leisner-Egensperger)
Rechtsprechung
- BVerfG, Beschluss vom 6.11.2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I
- BVerfG, Beschluss vom 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II