Ausgabe 18/2022, September
Abhandlungen
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Josef Franz Lindner, Augsburg, Verfassungsgerichtskonstitutionalisierung (auch) im Schulrecht?
Im Beschluss vom 19.11.2021 (1 BvR 971/21 – „Bundesnotbremse II“) hat das BVerfG erstmals ein Grundrecht auf schulische Bildung anerkannt. Neben dessen abwehrrechtlichem Gehalt, der im Rahmen der verfassungsrechtlichen Würdigung pandemiebedingter Schulschließungen im Mittelpunkt stand, erkennt das BVerfG auch eine leistungsrechtliche Dimension an. Diese vermittelt „Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten“ (Leitsatz 2a). Insbesondere mit dem Topos des „unverzichtbaren Mindeststandards“ scheint sich das BVerfG einen Mitgestaltungsspielraum für das in der alleinigen Länderkompetenz liegende Schulrecht offen zu halten. Droht die im Sicherheitsrecht zu beobachtende Verfassungsgerichtskonstitutionalisierung jetzt auch im Schulrecht?
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Stefan Drechsler/Moritz Litterst, Regensburg, Braucht die Verkehrswende eine neue Dogmatik von Gemeingebrauch und Sondernutzung?
Die 2019 als Hoffnungsträger der Verkehrswende eingeführten E-Scooter entwickeln sich immer mehr zum Störenfried für Kommunen. Unsachgemäß geparkte Fahrzeuge führen zunehmend zu Problemen und verdeutlichen exemplarisch das Regulierungsbedürfnis stationsloser Sharing-Angebote. Straßenrechtliche Instrumente erweisen sich dabei für Gemeinden als am attraktivsten, hängen allerdings von der Einordnung der Verkehrsangebote als Sondernutzung ab. Ausgehend von dieser Einordnung der Sharing-Modelle in Rechtsprechung und Landesgesetzgebung arbeitet der Beitrag die für die Abgrenzung zentralen dogmatischen Grundlagen des Gemeingebrauchsbegriffes auf. Schließlich wird eine „sharingfreundliche“ Abgrenzung von Gemeingebrauch und Sondernutzung skizziert, die nicht nur der privaten Kfz-Nutzung, sondern allen Mobilitätsformen gerecht wird und die Verkehrswende voranbringt.
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Tobias Pascher, Würzburg, Die Beistandsklausel im Vertrag von Lissabon – Bündnisfall zwischen Recht und Politik
Der Krieg in der Ukraine hat dafür sensibilisiert, dass nicht nur der Nordatlantikvertrag, sondern auch der Vertrag über die Europäische Union (EUV) eine Beistandsklausel enthält. Letztere Bestimmung wird dabei verbreitet als weniger weitreichend bezeichnet als ihr erstgenanntes Pendant. Zwar ist diese Einschätzung nach einer juristisch-methodischen Auslegung zurückzuweisen. Prägend für Art. 42 Abs. 7 EUV ist allerdings nicht seine rechtliche Bedeutung, sondern vielmehr das. Primat der Politik. Vor diesem Hintergrund und angesichts zahlreicher Ausnahmetatbestände bedeutete die Aufnahme eines konfliktbedrohten Staates in die EU keinen Kriegseintritt. Vielmehr bleiben breite Entscheidungsspielräume, die in politischer Hinsicht noch weiter reichen als auf Grundlage einer rein rechtlichen Betrachtung.
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Christof Gregor, München, Versammlungsrechtlicher Umgang mit „Spaziergängen“
Gegner der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie setzen seit geraumer Zeit auf die Aktionsform von „Spaziergängen“: Die so betitelten Menschenansammlungen werden häufig nicht angezeigt, lassen meist keinen Veranstalter oder Leiter erkennen und widersetzen sich oftmals, teils mit Gewalt, staatlichen Beschränkungen, vor allem aus dem Bereich des Infektionsschutzrechts. Damit werfen sie grundlegende, auch verfassungsrechtliche Fragestellungen für die Praxis auf.
Buchbesprechungen
- Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Band 81: Machtverschiebungen – Referate und Diskussionen der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtlehrer in Mannheim vom 6. bis 9. Oktober 2021 (Klaus Rennert)
- Wolfgang Kahl/Markus Ludwigs, (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts. Band I: Grundstrukturen des deutschen Verwaltungsrechts (JĂĽrgen Held)
- Wolfgang Kahl/Markus Ludwigs, (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts. Band II: Grundstrukturen des europäischen und internationalen Verwaltungsrechts (Jürgen Held)
Rechtsprechung
- BVerfG, Beschluss vom 19.11.2021 – 1 BvR 971/21 u. a. – Recht auf schulische Bildung; Zulässigkeit von Schulschließungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie (Art. 2 Abs. 1 und 2, 3 Abs. 2 Satz 2, 6 Abs. 1, 7 Abs. 1, 104 a Abs. 4 GG) (vgl. Abhandlung Josef Franz Lindner)
Umfangreiche Rechtsprechung in Leitsätzen
- Ausgewählte Entscheidungen im Volltext finden Sie hier:
- 552. VerfG Bbg, Urteil vom 20.5.2022 – VfGBbg 94/20 – Verdachtsberichterstattung des Verfassungsschutzes
- 553. ThürVerfGH, Urteil vom 22.6.2022 – VerfGH 17/21 – Unterschriftenquoren für eine Kommunalwahl unter Pandemiebedingungen
- 556. HessVGH, Beschluss vom 7.4.2022 – 1 B 3026/20 – Konkurrentenstreitverfahren um Stelle der Schulleitung
- 580. BVerwG, Urteil vom 7.4.2022 – 3 C 9.21 – Entziehung der Fahrerlaubnis; Beibringung eines medizinischpsychologischen Gutachtens
- 582. BVerwG, Urteil vom 15.3.2022 – 1 A 1.21 – Versagung des Einvernehmens des BMI zu Berliner Aufnahmeanordnung für zusätzliche „Moria-Flüchtlinge“